Literatur

Freitag, 7. September 2007

Jonathan Lethems neuer Roman

Warum die eine Band auf dem örtlichen Radiosender gespielt wird und die andere eine ganze Musik-Generation prägt, ist manchmal nur schwer zu verstehen. Das gewisse Etwas, von dem immer die Rede ist, haben Lucinda, Matthew, Denise und Bedwin in Jonathan Lethems neuen Roman „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ zu Beginn wohl eher nicht. Ihre Hobbygaragenband, irgendwo in der Kunstszene von Los Angeles beheimatet, trägt zum Lebensunterhalt rein gar nichts bei. Geld verdienen die Musiker als Tierpfleger, Verkäuferin im Pornoladen oder eben bei einem Call-Center-Kunstprojekt. Lucinda nimmt dort Beschwerdeanrufe entgegen und ist von einem „Nörgler“ besonders angetan. Aus seinen Geschichten werden neue Songs und die Band ist auf einmal gefragt. Zeit für den großen Durchbruch, gäbe es da nicht das Liebes- und Copyrightproblem. Der Nörgler, ein dicklicher Werbetexter, wird zu Lucindas Geliebtem und fordert seinen Platz in der Band.
Ein Buch, das an das Lebensgefühl der 90er Jahre erinnert. Wie einst in Kevin Smiths Film „Clerks“ wird die Popkultur zur eigentlichen Realität. Nach dem groß angelegten Roman „Die Festung der Einsamkeit“ ist „Du liebst mich, du liebst mich nicht“ ein leichtes, aber keineswegs banales Buch. Oder wie es am Ende slogenhaft heißt: „Es gibt keine Tiefe ohne Oberfläche.“

Mein Text erschien zuerst in der Septemberausgabe vom "Stadtkind"

Mit Hardrock gegen Lebenskrisen

Der Ruhrgebietsautor Frank Goosen liest in der Kulturfabrik aus seinem neuen Roman

Pop und Rock kommen in die Jahre und ans Aufhören ist nicht zu denken. Zumindest nicht für die „Rolling Stones“, Bob Dylan oder „The Who“. Musik, die mal Teil einer Jugendbewegung war, wird jetzt von betagten und gut betuchten Männern zum Besten gegeben. Manchmal würdevoll und manchmal der eigenen Vergangenheit hinterher hinkend. Es ist ein Kampf gegen das Alt-Werden und gegen die frühzeitige Pensionierung. Aber gleichzeitig auch ein Stück Lebenshilfe für die Menschen, die sich mit Musik gern an vergangene Zeiten zurück erinnern. So, wie die fünf Freunde in Frank Goosens neuem und gerade erschienen Roman „So viel Zeit“. Mit diesem war der Autor von „Liegen lernen“ am Mittwochabend zu Gast in der gut besuchten Kulturfabrik, eingeladen von Amei`s Buchecke.
Bulle, Konni, Rainer und Thomas sind Mitte vierzig, leben in Bochum und arbeiten als Arzt, Lehrer, Anwalt oder Pornobildtexter. Die wichtigsten Entscheidungen zwischen Hausbau und Kinderkriegen haben sie bereits hinter sich gebracht. Und weil dies so ist und Männer mittleren Alters bekanntlich in Sinnkrisen geraten, träumen sie bei ihren regelmäßigen Doppelkopfabenden von einer gemeinsamen Band. Es fehlt nur noch der fünfte Mann, denn auch ihre Helden von „Deep Purple“ waren zu fünft. Die Freunde erinnern sich an Ole, der vor Jahren aus geheimnisvollen Gründen nach Berlin ging. Der Coolste von einst, ist jetzt der rastlose Verlierer.
Goosens Roman ist nichts anderes als eine Comedy-Seifenoper. Die Geschichte bietet wenige Überraschungen und erscheint daher allzu vertraut. Viel eher setzt Goosen auf Situationskomik und braucht die Story nur, um seine Ideen zusammenzuhalten. Betrachtet man „So viel Zeit“ als Kabarettprogramm, ist es allerdings äußerst amüsant. Und Kabarett macht Goosen bereits seit 1992. Auch in der Kulturfabrik gelingt es ihm, zum Lachen zu bringen Mit seiner imposanten Statur, dem Ruhrpott-Dialekt und seinen ruppigen Ansagen verkörpert er das Ruhrgebiet so, wie man es sich vorstellt: Ehrlich, herzlich und direkt. Der in Bochum lebende Autor tritt eher als Malocher auf und bedient nicht so sehr das gängige Schriftstellebild. Ähnlich wie die Figuren im Roman, die alle nicht bei Opel am Band arbeiten, sich aber dennoch so geben. Aber gerade aus diesen Widersprüchen entsteht die Komik. Dies stellt Goosen in der Kulturfabrik vor allem mit einer Passage über den ersten Auftritt der Band unter Beweis. Die fünf wiedervereinten Freunde nennen sich jetzt „Mountain of thunder“ und beschallen eine 70er Jahre Mottoparty. „Vor dem Tennisclub kamen die ersten BMW, Mercedes, Golf Cabrio und New Beetle an. Männer mit Perücken und Batik-T-Shirts stiegen aus, Frauen in wallenden Kleidern und Clogs“, heißt es zu Beginn und nach einem energiegeladenen Konzert und einer zwölfminütigen Version von „Child in time“ werden aus den kostümierten Spießern nahezu Revoluzzer.
Am Ende der Lesung stellt Goosen sich die sonst üblichen Fragen gleich selber. Festzuhalten ist: „So viel Zeit“ ist jedenfalls nicht autobiographisch und das nächste Buch wird ein Ruhrgebietsfamilienroman. 2010 soll es erscheinen. Essen und das restliche Ruhrgebiet sind dann Kulturhauptstadt Europas und Goosen ein Vertreter dieser Region.

Mein Text erschien zuersten in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung" vom 23.08.2007

Freitag, 10. August 2007

Raul Zelik: Der bewaffnete Freund

Joseba Sarrionandia ist im Baskenland einer der meist gelesenen Autoren und gleichzeitig einer von vielen, die im Untergrund leben. Als Mitglied der ETA wurde er 1980 inhaftiert und 1985 während eines Gefängniskonzerts - er versteckte sich in Lautsprecherboxen - spektakulär befreit. Der spätere ETA-Führer Mikel Albizu "Antza" soll, als Tontechniker verkleidet, Sarrionandia zur Flucht verholfen haben. Albizu selbst wurde 20003 in Frankreich verhaftet. Historische Begebenheiten, die den Berliner Autor Raul Zelik nicht mehr loszulassen schienen. In Tages- und Wochenzeitungen hat er darüber geschrieben, und sein neuer Roman hier handelt komplett davon: Der Deutsche Alex arbeitet in Bilbao an einem Forschungsprojekt zur europäischen Identität. Als junger Linker half er einst den im südamerikanischen Untergrund lebenden ETA-Aktivisten Zubieta, im Roman der Befreier Sarrionandias. Nun kehrt Zubieta aus dem Exil zurück und nimmt Alex´Hilfe erneut in Anspruch. Zeliks Roman ist politisch, aber nicht tendenziös. Genderdebatten werden geführt, die "Festung Europa" thematisiert und staatliche sowie terroristische Gewalt hinterfragt. Keine Spur mehr von der Leichtigkeit des Vorgängerromans "Berliner Verhältnisse". Eher eine scharfsinnige Analyse aktueller Zustände, die den Leser aber dennoch mit einer hofnungsvollen Utopie entlässt.

Mein Text erschien zuerst in der Augustausgabe des "Stadtkinds".

Mittwoch, 11. Juli 2007

Kolja Mensing am 09.07. in der Kulturfabrik in Hildesheim

Kolja-Mensing-liest-in-Hildesheim-aus-seinem-Buch-Minibar

Ein würdevoller Blick
Der Geschichtensammler Kolja Mensing mit Buch und Film in der Kulturfabrik

Melancholie, vergebliche Liebe und die Neurosen des Mittelstandes. Von diesen Gefühlswelten erzählen viele der kurzen Geschichten in Kolja Mensings Buch „Minibar“. Nichts Neues in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Doch zum Glück thematisiert Mensing nicht nur die Luxusprobleme der Generation gut behüteter Mittdreißiger, sondern berichtet auch von Menschen, für die Bezeichnungen wie „Unterschicht“ oder bestenfalls „Prekariat“ wieder im allgemeinen Gebrauch sind. Mit dem Buch „Minibar“ und seinem Kurzfilm „13ter Stock“ war Kolja Mensing am Montagabend Gast in der Programmreihe „Nachtzeile“. In dieser Saison waren es politisch relevante Fragestellungen, die in der „Nachtzeile“ vorgestellt und diskutiert wurden. Ein gelungenes Programm, das nicht nur auf Themenvielfalt setzte, sondern auch unterschiedliche Formen politischen Schreibens berücksichtigte.
Mensing gibt sich zu Beginn nicht ganz so politisch. Ein „Er“ (wahlweise auch ein „Ich“) und ein „Sie“ finden in den meisten Kurzgeschichten zueinander und trennen sich am Ende wieder. Ganz gleich ob in „Minibar“, „Papier“ oder „Staub“. An die Utopie der Liebe glaubt das Buch jedenfalls nicht. Immer wieder reduziert Mensing geschickt auf das Wesentliche. Er ist, wie er später sagt, an der „Mechanik der Geschichte“ interessiert. Auch wenn es ihm literarisch gelingt und man ihm gerne zuhört, erzählen diese Kurzprosatexte nichts wirklich Weltbewegendes. Interessanter sind die Geschichten aus „Minibar“, die die Kindheit thematisieren oder die ein anderes Milieu beschreiben. In seiner Erzählung „Bier“ gelingt es Mensing, die soziale Härte auch als solche wiederzugeben: „Achim war Mitte vierzig, und er war arbeitslos, genau wie der Dicke und der Idiot mit der kaputten Brille.“ Keine Spur von Elendsromantik und falscher Sozialutopie. Mensing zeigt sich an diesem Abend als Anthropologe, der zu Beginn seine eigene Herkunft beschreibt und dann den Blick auf ihm fremde Lebensumstände richtet. Schicksale, wie die von Achim gibt es auch in seinem Film „13. Stock“, eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Dokumentarfilmer Florian Thalhofer. Vier Wochen sind die beiden als Geschichtensammler in ein Hochhaus in der Grohner Düne eingezogen, einer kleinen Trabantensiedlung bei Bremen. Einst gedacht als soziales Wohnbauprojekt und als sozialer Brennpunkt in Verruf gekommen. Der Dokumentarfilm ist interaktiv, besteht aus kurzen Clips und ist für die Rezeption am Computer gedacht. Aus einer unteren Leiste, die jeweils drei mögliche Kurzfilmschnipsel anbietet, muss der Betrachter immer wieder wählen und sich so durch die Leben der Bewohner klicken. Bei der öffentlichen Vorführung setzt Mensing auf Basisdemokratie. Mit Laserpointern ausgestattet, entscheidet die Mehrheit der Zuschauer, ob sie aus dem Leben des arbeitslosen Jens erfahren oder einer älteren Frau über das Ansehen der Siedlung zuhören möchte. Mensing und Thalhofer gelingt ein würdevoller Blick auf die Menschen, die sonst nur als gesellschaftliches Problem medial in Erscheinung treten. Dass man keine intimen Details erfährt, war den Filmemachern wichtig, wie Mensing in der anschliessenden Diskussion verrät. Und so zeigte der Abend, dass es sich lohnt, den eigenen Standpunkt zu verlassen und den weniger Privilegierten, eine Stimme zu geben.

Mein Text erschien am 11.07. in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

Dienstag, 29. Mai 2007

Ein politischer Roman

Raul Zelik liest in der Kulturfabrik zum ersten Mal aus „Der bewaffnete Freund“

Literatur soll politischer werden, etwas zu sagen haben und von gesellschaftlicher Relevanz sein. Diese Forderung wird von der Literaturkritik, aber auch von einzelnen Autoren wie beispielsweise Juli Zeh immer wieder gestellt. Der Schriftsteller Raul Zelik ist keineswegs unpolitisch, vor allem nicht mit seinem neuen Buch „Der bewaffnete Freund“. Dabei ist es keine Auseinandersetzung mit deutschen Verhältnissen, sondern mit dem Baskenland und dem Terrorismus. Ein passender Autor für die Programmreihe „Nachtzeile“, die vornehmlich Schriftsteller zu politischen und sozialen Themen in die Kulturfabrik Löseke einlädt und an diesem Abend mit Ameis Buchecke und dem Infoladen kooperierte.
Noch ist „Der bewaffnete Freund“ nicht erschienen und es ist das erste Mal, dass Zelik aus diesem Buch vor Publikum liest. Sein T-Shirt gegen den G8-Gipel ist ein klares Statement, während der Text sich einer Eindeutigkeit eher entzieht und einen differenzierten Blick auf die gewählte Thematik wirft. Welche das genau ist, erklärt Zelik zu Beginn. Er berichtet von der hohen Zahl der Basken, die in der Illegalität leben, von spanischer Polizeigewalt und vor allem auch vom Schriftsteller Joseba Sarrionandia. 1980 wurde Sarrionandia inhaftiert und 1985 während eines Gefängniskonzertes spektakulär befreit. Seitdem lebt er in der Illegalität, veröffentlicht weiterhin Bücher und ist einer der meist gelesenen baskischen Autoren. Soviel zum historischen Hintergrund des Romans. „Der bewaffnete Freund“ erzählt aus der Sicht von Alex. Einem Deutschen, der sich in Bilbao aufhält und „über europäische Identität“ forscht. Sein Freund Zubieta war es, der Sarrionandia befreite und seitdem in Brasilien im Untergrund lebt. Zubieta kehrt nach Spanien und somit auch wieder in Alex Leben zurück. Es ist ein dialoglastiger, eher handlungsarmer Roman, der beim Zuhören ein hohes Maß an Konzentration voraussetzt. Doch kleine Beobachtungen sind es, die die Lesung nicht allzu angestrengt wirken lassen. So stellt Alex beispielsweise fest: „Das Schlimmste ist das Neo-Hippieske. Backpacker, die sich für Aussteiger halten, aber in Wirklichkeit nur als neoliberale Vorhut des Pauschaltourismus unterwegs sind.“ Einige Rezensenten werden dem Text vorwerfen, thesenhaft, langatmig und verschachtelt zu sein. Ähnlich wie es vor einigen Jahren Norbert Gstreins Jugoslawienkriegsroman „Das Handwerk des Tötens“ vorgeworfen wurde. Doch gerade ein Roman mit politischem Hintergrund verlangt eine ausgewogene Erzählweise. In der anschließenden Diskussion ist Zelik direkter: Er wirft Spanien vor, selbst Mittel des Terrors anzuwenden, berichtet von Todesschwadronen und Polizeifolter. Einen Friedensprozess hält er für gescheitert und glaubt, dass die ETA wieder Anschläge verüben wird. Zelik ist sich des Exotenthemas seines Buches bewusst. Da die Europäer immer wieder die Zustände im Gefangenenlager „Guantanamo“ anklagen, möchte er den Blick auf das in Europa begangene Unrecht schärfen. And diesem Abend ist es ihm jedenfalls gelungen.

Geschrieben für die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung". Veröffentlicht am 23.05.2007

Dienstag, 8. Mai 2007

Literarische Vielfalt

Release-Party der „Landpartie 07“ mit Autoren aus Hildesheim und Leipzig

Sie sind jung, haben nichts zu erzählen. Auch wenn sie ganz passabel schreiben, der Stil ist leider immer derselbe. Mit einer solchen Kritik werden Studierende oder Absolventen aus Hildesheim und Leipzig des Öfteren konfrontiert. Denn an diesen Universitäten kann man das Schreiben erlernen und eine Autorenausbildung ist hierzulande immer noch verdächtig. Am Freitagabend hatte man im F1 des Stadttheaters die Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen. Der Hildesheimer Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ feierte mit einer Lesung die Veröffentlichung der Jahresanthologie „Landpartie 07“. Bereits zum dritten Mal bietet diese Reihe den Studenten ein Forum, um sich mit eigenen Texten der Öffentlichkeit vorzustellen. Lutz Woellert, einer der Projektleiter der „Landpartie“, konnte zu Beginn des Abends seinen eigenen Enthusiasmus kaum verbergen. Ein Wahnsinnsbuch sei die „Landpartie 07“ geworden. Neben den abgedruckten Texten vor allem auch ein Kunstbuch mit einer eigenen graphischen Erzählebene. Im März wurde das Buch bereits auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und seitdem auch in anderen Städten.
Neben den Hildesheimer Studenten Martin Kordić und Kai Splittgerber lasen an diesem Abend, mit Luise Boege und Christopher Weber, auch zwei Gäste aus Leipzig. Durch den Abend führte Lino Wirag, der mit seinen Anmoderationen gut unterhielt und für die nötige Entspannung zwischen den Lesungen sorgte.
Um die Klischees gleich zu entkräften: Natürlich sind alle Autoren jung, aber ihre Texte weisen kaum Gemeinsamkeiten auf. Martin Kordić entschied sich für einen neuen, noch nicht veröffentlichten Prosatext. „Mit dem Bus nach unten“, so der Arbeitstitel, schildert in der ersten Hälfte eine Busfahrt von Deutschland in die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien. Detailliert werden die Reisenden beschrieben, in der zweiten Hälfte die Spuren des Krieges. Von gesprengten Gräbern ist die Rede und von zerstörten und neuen Gebäuden. Christopher Weber präsentierte eine Science-Fiction Geschichte mit dem Titel „Der Triebtäter“. Ein Roboter, Dorfschullehrer und Fabrikant gehören zum Personal und so wird schnell klar: Es ist keine Story über eine mögliche Zukunft. Science-Fiction wird von Weber als ein historisches Genre verstanden. Luise Boeges und Kai Splittgerbers Texten könnte man am ehesten vorwerfen, Stilübungen zu sein. Boege, die letztjährige Gewinnerin des Open-Mikes, trägt mit „Die verdammte Vergangenheit“ einen selbstreferentiellen Text über das Schreiben vor. Splittgerber greift mit seiner Geschichte „Tapeten“ den großen Themenkomplex Gedächtnis und Erinnerung auf. Teile der Erzählung sind übereinander geschichtet und müssen vom Leser freigelegt werden. Wer wissen möchte, wie vielfältig die Textproduktionen des Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ sind, sollte einen Blick in die Anthologie „Landpartie 07“ werfen.

Montag, 7. Mai 2007

Kultur – Kunst und Leben der Paula Modersohn-Becker

(kru) Im November jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag von Paula Modersohn-Becker. Die zu Lebzeiten unbekannte Malerin verstarb im Alter von nur 31 Jahren und hinterließ dennoch ein umfangreiches Werk.
Einen facettenreichen Blick auf diese Biographie bietet die Publizistin Barbara Beuys mit ihrem neuen Buch „Paula Modersohn-Becker oder: Wenn die Kunst das Leben ist“. Am Freitagabend war sie zu Gast in der Buchhandlung Decius. Ein zahlreiches Publikum war gekommen, um mehr über das Leben dieser bedeutenden Künstlerin in Erfahrung zu bringen.
15 Sachbücher hat Beuys mittlerweile geschrieben, beispielsweise über Widerstandskämpfer während des NS-Regimes oder über jüdisches Leben in Europa. In den vergangenen Jahren waren es ausschließlich Biografien bedeutender Frauen. Annette von Droste-Hülshoff hat sie porträtiert, ebenso Hildegard von Bingen.
Beim Schreiben von Biografien ist es ihr wichtig, gesteht Barbara Beuys zu Beginn, „etwas Neues zu bringen“. Während man in Modersohn-Becker allgemein eine norddeutsche, depressive Frau sieht, ist sie für Beuys eigentlich eine Großstädterin und elegante Sächsin gewesen. Anhaltspunkt ist Modersohn-Beckers Kindheit in Dresden. „Zwölf Jahre eines Lebens sind eine lange Zeit. Zumal die ersten“ heißt es in dem Buch.
Dieser Ansatz ist nicht neu. Denn spätestens seit Sigmund Freuds „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ wird der Kindheit des Künstlers besondere Aufmerksamkeit geschenkt. So soll Modersohn-Becker einerseits eine „fröhliche, eine bunte Kindheit“ und andererseits eine „träumerisch-tränenreiche Kindheit“ gehabt haben. „Kinderjahre, die sie prägten und die sie mitnahm ins spätere Leben“, so die Schlussfolgerung.
Beuys ist in ihrem Buch und auch in ihrem Vortrag eine äußerst selbstbewusste Autorin, die gezielt an der Revision des gängigen Modersohn-Becker-Bildes arbeitet. Durch diese starke Fürsprache gelingt es ihr besonders gut, Modersohn-Becker in das geistig-kulturelle Klima der Jahrhundertwende einzuordnen und ihren Pioniercharakter in der Kunst herauszuarbeiten. Sie beschreibt nicht nur, dass Modersohn-Becker zur selben Zeit wie Picasso Kinder malt oder sich als erste Künstlerin im Akt porträtiert. Zuweilen fehlt ihr die kritische Distanz und sie tritt als bedingungslose Anwältin auf. Spekulativ sind beispielsweise die Versuche, das Privatleben der Künstlerin zu deuten. Und hier ist man froh, wenn die Künstlerin Modersohn-Becker sich möglichen Deutungen verschließt.
Warum sie nichts unternommen hat, um ihre Bilder zu verkaufen und an die Öffentlichkeit zu treten, kann Beuys nur vermuten. Auch ob Modersohn-Becker in Paris Kontakt zu anderen Künstlern hatte, ist nicht bekannt. Aber gerade diese weißen Flecke in der Biografie lassen Modersohn-Becker sehr lebendig erscheinen.

Dieser Text erschien am 07.05.2007 in der "Hildesheimer Allgemeine Zeitung"

Montag, 30. April 2007

Technik der Irritation. Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman "Mittelmäßiges Heimweh"

„Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein“, heißt es gleich auf der ersten Seite des neuen Wilhelm Genazino-Romans „Mittelmäßiges Heimweh“. Und sofort taucht man ein in die Welt der Angestellten. Viel hat sich dort nicht verändert. Denn Dieter Rotmund ist ein Geistesverwandter Abschaffels, der „Held“ des gleichnamigen Romans von 1977.
Fast haben sie mit den selben Problemen zu kämpfen, wäre da nicht Rotmunds abgefallenes Ohr. Mit diesem phantastischen Detail überraschte der Büchner-Preisträger Genazino seine Leser und am Dienstagabend die Gäste der Decius-Buchhandlung.
Ganz unprätentiös beginnt Genazino die Lesung. Keine große Einleitung und kein Nacherzählen der Geschichte. Genazino legt seinen roten Jutebeutel auf den Tisch, verweist auf die anschließende Möglichkeit der Diskussion und konfrontiert uns augenblicklich mit Rotmunds Innenleben: „Wir haben die Welt nicht erschaffen, wir erleiden sie nur“ heißt es und man ist froh, dass auch Rotmund dieser Satz peinlich ist. Alles was Rotmund erlebt, stößt ihm zu und wir können ihm nur beim Reagieren zuschauen. Der Verlust seiner Frau, oder seines Ohrs und kleinen Zehs. Man kann in dieser Geschichte, wie eine Zuschauerin in der anschließenden Diskussion, Bitternis und Melancholie erkennen. Doch sicherlich auch grotesken Humor. Nach Verlust seines kleinen Zehs sind es nicht gesundheitliche Folgeschäden, die Rotmund Sorge bereiten, sondern die Angst vor möglichen Konsequenzen durch seinen Arbeitgeber. Wie Genazino erklärt sind die abfallenden Körperteile eine „symbolische Instanz“, die ihm helfen eine schwer greifbare Unzufriedenheit vieler Menschen zu fixieren. Eine solche Unzufriedenheit ist nicht zu erklären und bleibt letzten Endes ein Rätsel. Auch wenn ein abgefallenes Ohr spektakulär erscheint, einen viel größeren Raum bekommen die Momente des Alltags, die der Roman minutiös beschreibt. Rotmund flaniert durch die Strassen und beobachtet einen Mann, der einen schwarzen Kamm kauft oder Angestellte, die sich im Schwimmbad verausgaben, weil sie auf der Suche nach einem besseren Körpergefühl sind. Gerade diese Beschreibungen sind es, die Fragen nach der Entstehung des Textes aufwerfen. Kleine zurechtgeschnittene Kartons und einen Stift hat Genazino jedenfalls immer dabei. Denn wenn er etwas sieht, was den Blick auf ein dahinter freigibt, muss er es aufschreiben. So „verlangsamt die Literatur das Leben und die Anschauung wird möglich.“ Dabei ist auch dies nur eine Illusion, denn das „Bewußtsein arbeitet unanschaulich“ und jede „Niederschrift ist bereits eine Bearbeitung“ des Erlebten.
Für Genazino ist Literatur eine „Technik der Irritation“ und so ist es auch ein besonderes Erlebnis, dem Autor beim Lesen seines Textes zuzuhören. Denn die Gedanken Rotmunds verlangen nach einer unmittelbaren Reaktion. Kalt lässt einen der Alltagsschrecken nicht. Vielleicht, weil er nicht ganz unbekannt ist.

Diesen Text habe ich für die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung" geschrieben. Veröffentlicht wurde er am 26.04.2007.

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