Kolja Mensing am 09.07. in der Kulturfabrik in Hildesheim

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Ein würdevoller Blick
Der Geschichtensammler Kolja Mensing mit Buch und Film in der Kulturfabrik

Melancholie, vergebliche Liebe und die Neurosen des Mittelstandes. Von diesen Gefühlswelten erzählen viele der kurzen Geschichten in Kolja Mensings Buch „Minibar“. Nichts Neues in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Doch zum Glück thematisiert Mensing nicht nur die Luxusprobleme der Generation gut behüteter Mittdreißiger, sondern berichtet auch von Menschen, für die Bezeichnungen wie „Unterschicht“ oder bestenfalls „Prekariat“ wieder im allgemeinen Gebrauch sind. Mit dem Buch „Minibar“ und seinem Kurzfilm „13ter Stock“ war Kolja Mensing am Montagabend Gast in der Programmreihe „Nachtzeile“. In dieser Saison waren es politisch relevante Fragestellungen, die in der „Nachtzeile“ vorgestellt und diskutiert wurden. Ein gelungenes Programm, das nicht nur auf Themenvielfalt setzte, sondern auch unterschiedliche Formen politischen Schreibens berücksichtigte.
Mensing gibt sich zu Beginn nicht ganz so politisch. Ein „Er“ (wahlweise auch ein „Ich“) und ein „Sie“ finden in den meisten Kurzgeschichten zueinander und trennen sich am Ende wieder. Ganz gleich ob in „Minibar“, „Papier“ oder „Staub“. An die Utopie der Liebe glaubt das Buch jedenfalls nicht. Immer wieder reduziert Mensing geschickt auf das Wesentliche. Er ist, wie er später sagt, an der „Mechanik der Geschichte“ interessiert. Auch wenn es ihm literarisch gelingt und man ihm gerne zuhört, erzählen diese Kurzprosatexte nichts wirklich Weltbewegendes. Interessanter sind die Geschichten aus „Minibar“, die die Kindheit thematisieren oder die ein anderes Milieu beschreiben. In seiner Erzählung „Bier“ gelingt es Mensing, die soziale Härte auch als solche wiederzugeben: „Achim war Mitte vierzig, und er war arbeitslos, genau wie der Dicke und der Idiot mit der kaputten Brille.“ Keine Spur von Elendsromantik und falscher Sozialutopie. Mensing zeigt sich an diesem Abend als Anthropologe, der zu Beginn seine eigene Herkunft beschreibt und dann den Blick auf ihm fremde Lebensumstände richtet. Schicksale, wie die von Achim gibt es auch in seinem Film „13. Stock“, eine Gemeinschaftsarbeit mit dem Dokumentarfilmer Florian Thalhofer. Vier Wochen sind die beiden als Geschichtensammler in ein Hochhaus in der Grohner Düne eingezogen, einer kleinen Trabantensiedlung bei Bremen. Einst gedacht als soziales Wohnbauprojekt und als sozialer Brennpunkt in Verruf gekommen. Der Dokumentarfilm ist interaktiv, besteht aus kurzen Clips und ist für die Rezeption am Computer gedacht. Aus einer unteren Leiste, die jeweils drei mögliche Kurzfilmschnipsel anbietet, muss der Betrachter immer wieder wählen und sich so durch die Leben der Bewohner klicken. Bei der öffentlichen Vorführung setzt Mensing auf Basisdemokratie. Mit Laserpointern ausgestattet, entscheidet die Mehrheit der Zuschauer, ob sie aus dem Leben des arbeitslosen Jens erfahren oder einer älteren Frau über das Ansehen der Siedlung zuhören möchte. Mensing und Thalhofer gelingt ein würdevoller Blick auf die Menschen, die sonst nur als gesellschaftliches Problem medial in Erscheinung treten. Dass man keine intimen Details erfährt, war den Filmemachern wichtig, wie Mensing in der anschliessenden Diskussion verrät. Und so zeigte der Abend, dass es sich lohnt, den eigenen Standpunkt zu verlassen und den weniger Privilegierten, eine Stimme zu geben.

Mein Text erschien am 11.07. in der "Hildesheimer Allgemeinen Zeitung"

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