Technik der Irritation. Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman "Mittelmäßiges Heimweh"

„Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein“, heißt es gleich auf der ersten Seite des neuen Wilhelm Genazino-Romans „Mittelmäßiges Heimweh“. Und sofort taucht man ein in die Welt der Angestellten. Viel hat sich dort nicht verändert. Denn Dieter Rotmund ist ein Geistesverwandter Abschaffels, der „Held“ des gleichnamigen Romans von 1977.
Fast haben sie mit den selben Problemen zu kämpfen, wäre da nicht Rotmunds abgefallenes Ohr. Mit diesem phantastischen Detail überraschte der Büchner-Preisträger Genazino seine Leser und am Dienstagabend die Gäste der Decius-Buchhandlung.
Ganz unprätentiös beginnt Genazino die Lesung. Keine große Einleitung und kein Nacherzählen der Geschichte. Genazino legt seinen roten Jutebeutel auf den Tisch, verweist auf die anschließende Möglichkeit der Diskussion und konfrontiert uns augenblicklich mit Rotmunds Innenleben: „Wir haben die Welt nicht erschaffen, wir erleiden sie nur“ heißt es und man ist froh, dass auch Rotmund dieser Satz peinlich ist. Alles was Rotmund erlebt, stößt ihm zu und wir können ihm nur beim Reagieren zuschauen. Der Verlust seiner Frau, oder seines Ohrs und kleinen Zehs. Man kann in dieser Geschichte, wie eine Zuschauerin in der anschließenden Diskussion, Bitternis und Melancholie erkennen. Doch sicherlich auch grotesken Humor. Nach Verlust seines kleinen Zehs sind es nicht gesundheitliche Folgeschäden, die Rotmund Sorge bereiten, sondern die Angst vor möglichen Konsequenzen durch seinen Arbeitgeber. Wie Genazino erklärt sind die abfallenden Körperteile eine „symbolische Instanz“, die ihm helfen eine schwer greifbare Unzufriedenheit vieler Menschen zu fixieren. Eine solche Unzufriedenheit ist nicht zu erklären und bleibt letzten Endes ein Rätsel. Auch wenn ein abgefallenes Ohr spektakulär erscheint, einen viel größeren Raum bekommen die Momente des Alltags, die der Roman minutiös beschreibt. Rotmund flaniert durch die Strassen und beobachtet einen Mann, der einen schwarzen Kamm kauft oder Angestellte, die sich im Schwimmbad verausgaben, weil sie auf der Suche nach einem besseren Körpergefühl sind. Gerade diese Beschreibungen sind es, die Fragen nach der Entstehung des Textes aufwerfen. Kleine zurechtgeschnittene Kartons und einen Stift hat Genazino jedenfalls immer dabei. Denn wenn er etwas sieht, was den Blick auf ein dahinter freigibt, muss er es aufschreiben. So „verlangsamt die Literatur das Leben und die Anschauung wird möglich.“ Dabei ist auch dies nur eine Illusion, denn das „Bewußtsein arbeitet unanschaulich“ und jede „Niederschrift ist bereits eine Bearbeitung“ des Erlebten.
Für Genazino ist Literatur eine „Technik der Irritation“ und so ist es auch ein besonderes Erlebnis, dem Autor beim Lesen seines Textes zuzuhören. Denn die Gedanken Rotmunds verlangen nach einer unmittelbaren Reaktion. Kalt lässt einen der Alltagsschrecken nicht. Vielleicht, weil er nicht ganz unbekannt ist.

Diesen Text habe ich für die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung" geschrieben. Veröffentlicht wurde er am 26.04.2007.

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