Dienstag, 8. Mai 2007

Literarische Vielfalt

Release-Party der „Landpartie 07“ mit Autoren aus Hildesheim und Leipzig

Sie sind jung, haben nichts zu erzählen. Auch wenn sie ganz passabel schreiben, der Stil ist leider immer derselbe. Mit einer solchen Kritik werden Studierende oder Absolventen aus Hildesheim und Leipzig des Öfteren konfrontiert. Denn an diesen Universitäten kann man das Schreiben erlernen und eine Autorenausbildung ist hierzulande immer noch verdächtig. Am Freitagabend hatte man im F1 des Stadttheaters die Gelegenheit, sich ein eigenes Bild zu machen. Der Hildesheimer Studiengang „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ feierte mit einer Lesung die Veröffentlichung der Jahresanthologie „Landpartie 07“. Bereits zum dritten Mal bietet diese Reihe den Studenten ein Forum, um sich mit eigenen Texten der Öffentlichkeit vorzustellen. Lutz Woellert, einer der Projektleiter der „Landpartie“, konnte zu Beginn des Abends seinen eigenen Enthusiasmus kaum verbergen. Ein Wahnsinnsbuch sei die „Landpartie 07“ geworden. Neben den abgedruckten Texten vor allem auch ein Kunstbuch mit einer eigenen graphischen Erzählebene. Im März wurde das Buch bereits auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt und seitdem auch in anderen Städten.
Neben den Hildesheimer Studenten Martin Kordić und Kai Splittgerber lasen an diesem Abend, mit Luise Boege und Christopher Weber, auch zwei Gäste aus Leipzig. Durch den Abend führte Lino Wirag, der mit seinen Anmoderationen gut unterhielt und für die nötige Entspannung zwischen den Lesungen sorgte.
Um die Klischees gleich zu entkräften: Natürlich sind alle Autoren jung, aber ihre Texte weisen kaum Gemeinsamkeiten auf. Martin Kordić entschied sich für einen neuen, noch nicht veröffentlichten Prosatext. „Mit dem Bus nach unten“, so der Arbeitstitel, schildert in der ersten Hälfte eine Busfahrt von Deutschland in die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien. Detailliert werden die Reisenden beschrieben, in der zweiten Hälfte die Spuren des Krieges. Von gesprengten Gräbern ist die Rede und von zerstörten und neuen Gebäuden. Christopher Weber präsentierte eine Science-Fiction Geschichte mit dem Titel „Der Triebtäter“. Ein Roboter, Dorfschullehrer und Fabrikant gehören zum Personal und so wird schnell klar: Es ist keine Story über eine mögliche Zukunft. Science-Fiction wird von Weber als ein historisches Genre verstanden. Luise Boeges und Kai Splittgerbers Texten könnte man am ehesten vorwerfen, Stilübungen zu sein. Boege, die letztjährige Gewinnerin des Open-Mikes, trägt mit „Die verdammte Vergangenheit“ einen selbstreferentiellen Text über das Schreiben vor. Splittgerber greift mit seiner Geschichte „Tapeten“ den großen Themenkomplex Gedächtnis und Erinnerung auf. Teile der Erzählung sind übereinander geschichtet und müssen vom Leser freigelegt werden. Wer wissen möchte, wie vielfältig die Textproduktionen des Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“ sind, sollte einen Blick in die Anthologie „Landpartie 07“ werfen.

Montag, 7. Mai 2007

Kultur – Kunst und Leben der Paula Modersohn-Becker

(kru) Im November jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag von Paula Modersohn-Becker. Die zu Lebzeiten unbekannte Malerin verstarb im Alter von nur 31 Jahren und hinterließ dennoch ein umfangreiches Werk.
Einen facettenreichen Blick auf diese Biographie bietet die Publizistin Barbara Beuys mit ihrem neuen Buch „Paula Modersohn-Becker oder: Wenn die Kunst das Leben ist“. Am Freitagabend war sie zu Gast in der Buchhandlung Decius. Ein zahlreiches Publikum war gekommen, um mehr über das Leben dieser bedeutenden Künstlerin in Erfahrung zu bringen.
15 Sachbücher hat Beuys mittlerweile geschrieben, beispielsweise über Widerstandskämpfer während des NS-Regimes oder über jüdisches Leben in Europa. In den vergangenen Jahren waren es ausschließlich Biografien bedeutender Frauen. Annette von Droste-Hülshoff hat sie porträtiert, ebenso Hildegard von Bingen.
Beim Schreiben von Biografien ist es ihr wichtig, gesteht Barbara Beuys zu Beginn, „etwas Neues zu bringen“. Während man in Modersohn-Becker allgemein eine norddeutsche, depressive Frau sieht, ist sie für Beuys eigentlich eine Großstädterin und elegante Sächsin gewesen. Anhaltspunkt ist Modersohn-Beckers Kindheit in Dresden. „Zwölf Jahre eines Lebens sind eine lange Zeit. Zumal die ersten“ heißt es in dem Buch.
Dieser Ansatz ist nicht neu. Denn spätestens seit Sigmund Freuds „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ wird der Kindheit des Künstlers besondere Aufmerksamkeit geschenkt. So soll Modersohn-Becker einerseits eine „fröhliche, eine bunte Kindheit“ und andererseits eine „träumerisch-tränenreiche Kindheit“ gehabt haben. „Kinderjahre, die sie prägten und die sie mitnahm ins spätere Leben“, so die Schlussfolgerung.
Beuys ist in ihrem Buch und auch in ihrem Vortrag eine äußerst selbstbewusste Autorin, die gezielt an der Revision des gängigen Modersohn-Becker-Bildes arbeitet. Durch diese starke Fürsprache gelingt es ihr besonders gut, Modersohn-Becker in das geistig-kulturelle Klima der Jahrhundertwende einzuordnen und ihren Pioniercharakter in der Kunst herauszuarbeiten. Sie beschreibt nicht nur, dass Modersohn-Becker zur selben Zeit wie Picasso Kinder malt oder sich als erste Künstlerin im Akt porträtiert. Zuweilen fehlt ihr die kritische Distanz und sie tritt als bedingungslose Anwältin auf. Spekulativ sind beispielsweise die Versuche, das Privatleben der Künstlerin zu deuten. Und hier ist man froh, wenn die Künstlerin Modersohn-Becker sich möglichen Deutungen verschließt.
Warum sie nichts unternommen hat, um ihre Bilder zu verkaufen und an die Öffentlichkeit zu treten, kann Beuys nur vermuten. Auch ob Modersohn-Becker in Paris Kontakt zu anderen Künstlern hatte, ist nicht bekannt. Aber gerade diese weißen Flecke in der Biografie lassen Modersohn-Becker sehr lebendig erscheinen.

Dieser Text erschien am 07.05.2007 in der "Hildesheimer Allgemeine Zeitung"

Montag, 30. April 2007

Technik der Irritation. Wilhelm Genazino liest aus seinem neuen Roman "Mittelmäßiges Heimweh"

„Es ist nicht einfach, ein einzelner zu sein“, heißt es gleich auf der ersten Seite des neuen Wilhelm Genazino-Romans „Mittelmäßiges Heimweh“. Und sofort taucht man ein in die Welt der Angestellten. Viel hat sich dort nicht verändert. Denn Dieter Rotmund ist ein Geistesverwandter Abschaffels, der „Held“ des gleichnamigen Romans von 1977.
Fast haben sie mit den selben Problemen zu kämpfen, wäre da nicht Rotmunds abgefallenes Ohr. Mit diesem phantastischen Detail überraschte der Büchner-Preisträger Genazino seine Leser und am Dienstagabend die Gäste der Decius-Buchhandlung.
Ganz unprätentiös beginnt Genazino die Lesung. Keine große Einleitung und kein Nacherzählen der Geschichte. Genazino legt seinen roten Jutebeutel auf den Tisch, verweist auf die anschließende Möglichkeit der Diskussion und konfrontiert uns augenblicklich mit Rotmunds Innenleben: „Wir haben die Welt nicht erschaffen, wir erleiden sie nur“ heißt es und man ist froh, dass auch Rotmund dieser Satz peinlich ist. Alles was Rotmund erlebt, stößt ihm zu und wir können ihm nur beim Reagieren zuschauen. Der Verlust seiner Frau, oder seines Ohrs und kleinen Zehs. Man kann in dieser Geschichte, wie eine Zuschauerin in der anschließenden Diskussion, Bitternis und Melancholie erkennen. Doch sicherlich auch grotesken Humor. Nach Verlust seines kleinen Zehs sind es nicht gesundheitliche Folgeschäden, die Rotmund Sorge bereiten, sondern die Angst vor möglichen Konsequenzen durch seinen Arbeitgeber. Wie Genazino erklärt sind die abfallenden Körperteile eine „symbolische Instanz“, die ihm helfen eine schwer greifbare Unzufriedenheit vieler Menschen zu fixieren. Eine solche Unzufriedenheit ist nicht zu erklären und bleibt letzten Endes ein Rätsel. Auch wenn ein abgefallenes Ohr spektakulär erscheint, einen viel größeren Raum bekommen die Momente des Alltags, die der Roman minutiös beschreibt. Rotmund flaniert durch die Strassen und beobachtet einen Mann, der einen schwarzen Kamm kauft oder Angestellte, die sich im Schwimmbad verausgaben, weil sie auf der Suche nach einem besseren Körpergefühl sind. Gerade diese Beschreibungen sind es, die Fragen nach der Entstehung des Textes aufwerfen. Kleine zurechtgeschnittene Kartons und einen Stift hat Genazino jedenfalls immer dabei. Denn wenn er etwas sieht, was den Blick auf ein dahinter freigibt, muss er es aufschreiben. So „verlangsamt die Literatur das Leben und die Anschauung wird möglich.“ Dabei ist auch dies nur eine Illusion, denn das „Bewußtsein arbeitet unanschaulich“ und jede „Niederschrift ist bereits eine Bearbeitung“ des Erlebten.
Für Genazino ist Literatur eine „Technik der Irritation“ und so ist es auch ein besonderes Erlebnis, dem Autor beim Lesen seines Textes zuzuhören. Denn die Gedanken Rotmunds verlangen nach einer unmittelbaren Reaktion. Kalt lässt einen der Alltagsschrecken nicht. Vielleicht, weil er nicht ganz unbekannt ist.

Diesen Text habe ich für die "Hildesheimer Allgemeine Zeitung" geschrieben. Veröffentlicht wurde er am 26.04.2007.

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